Der Spielzeitbeginn 2023/24
Der Spielzeitauftakt im Staatstheater Mainz war weiblich: Marie, Carmen, Anna Karenina und Salome stehen als Protagonistinnen im Zentrum der Stücke – und zwei Regisseurinnen inszenierten die Eröffnungspremieren in Schauspiel und Oper. Doch Vorsicht! Eine Identität als Hauptfigur ist lebensgefährlich. „Nur über ihre Leiche“ hat die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen ihre Studie über dieses Thema genannt. Aus gutem Grund, denn sobald in der Literatur das Licht der Aufmerksamkeit auf eine Frau scheint, bedeutet das in der Regel am Schluss ihren sicheren Tod.
Warum aber ist das so? Bei aller Unterschiedlichkeit der Stoffe eint die oben genannten Frauen eines – sie formulieren eigene Lust und eigenes Begehren. Carmen ist in dieser Reihe die wohl prominenteste Vertreterin eines Selbstbestimmungsanspruches auf den eigenen Körper. Sie will sich keinesfalls auf nur einen Mann beschränken oder gar von einem Mann besitzen lassen – Freiheit! ist der Schlachtruf, mit dem sie in den Geschlechterkampf zieht und den sie mit ihrem Leben bezahlt.
Anna Karenina erstickt im Korsett ihrer langweiligen Ehe. Sie steht unter der Dauerbeobachtung einer streng normierenden Gesellschaft und ihre Suche nach Leidenschaft und großen Gefühlen wird natürlich geächtet, Rückzugs- oder gar Freiräume gibt es nicht. Das Motiv der Ehebrecherin, die für ihre verzweifelte Sehnsucht nach kompromissloser Liebe gerichtet wird, zieht sich insbesondere durch die Literatur des 19. Jahrhunderts, Kareninas Schwestern heißen Emma Bovary und Effi Briest – keine von ihnen überlebt.
Salome, als radikalste Vertreterin der begehrenden Frau („Ich bin verliebt in deinen Leib Jochanaan“), setzt das erotische Begehren, das sie bei den Männern auslöst, als Waffe ein. Der Preis für ihren Körper ist der Kopf des Mannes, den sie nicht bekommen kann, auf symbolischer Ebene ist das schon fast ironisch. Natürlich muss sie dafür sterben.
Als ihr Gegenbild scheint uns die Marie im Woyzeck zu begegnen. In nahezu allen Interpretationen von Büchners Drama wird ihr klar eine Opferrolle zugewiesen. Doch das wird ihr nicht wirklich gerecht, denn selbst Marie versucht, sich dem männlichen System auf ihre Art zu verweigern. Zugegebenermaßen liest sich ihre Verweigerung eher vorfeministisch, aber dennoch: Sie ist die Einzige, die sich einem brutalen hierarchischen System zu entziehen versucht, in dem Woyzecks Körper durch harte körperliche Arbeit und medizinische Versuche ausgebeutet wird. Die sehr konkrete Leidenschaft („Rühr mich an!“) für den Tambourmajor und die Illusion einer wie auch immer verzweifelten romantischen Verliebtheit kann natürlich nicht gelingen und der Tod ist ihr sicher.
Was aber ist so schlimm an der Idee der begehrenden Frau, dass sie auf keinen Fall überleben darf? Warum werden die Geschichten „nur über ihre Leiche“ erzählt? Elisabeth Bronfen erklärt das – in einem Programmheftbeitrag für die Deutsche Oper Berlin am Beispiel von Carmen – mit der „Sprengkraft des Weiblichen, eine männliche Ordnung mit ihren klaren Unterscheidungen und Gesetzen demontieren zu können. […] Carmen stört, weil ihr Begehren niemals an einen Mann fixiert ist, sondern von einem männlichen Körper zum nächsten gleitet und möglicherweise über die männliche Referenz hinaus.“ Heißt: Die körperlich begehrende und nicht nur begehrte Frau, also die aktive statt passive Figur, ist die existenzielle Bedrohung eines männlich bestimmten Herrschaftssystems, darum muss dieser Körper letztlich zerstört werden.
Übrigens werden die Frauenleichen dabei gerne sublimiert, also erhöht. Die schöne Tote (ihr Prototyp ist Hamlets Ophelia, nixengleich und zartblass begegnen wir ihr heute noch in Nick Caves Video zu „Where the wild roses grow“) hat gleich zwei Vorteile – sie stört nicht mehr im Leben und sie nimmt dazu noch der hässlichen Fratze des Todes den Schrecken.
Allein Anna Karenina verweigert sich dem durch den brutalen Akt ihrer Selbsttötung, sie wirft sich vor den Zug, eine letzte Rebellion gegen Inanspruchnahme ihres Körpers. Und natürlich ist das alles der Stoff, aus dem die dramatischen Träume sind: Liebe, Sehnsucht, Tod, Freiheit. Die großen Motive der Poesie und des Theaters – in völlig verschiedenen Lesarten, sowohl in den Stoffen als auch in den Interpretationen durch die Regisseur*innen. Männer haben die Frauen beschrieben, es darf nun darum gehen, sie „unbeschreiblich weiblich“ immer wieder neu zu lesen und zu gestalten.
Der Spielzeitbeginn 2023/24
nach Lew Tolstoi (1875/78)
von Richard Strauss (1905)
von Georges Bizet (1875)
nach Motiven von Georg Büchner